Change

Warum Zitronenfalter keine Zitronen falten


Wir alle spüren den Druck. Wir alle müssen uns verändern. Wir restrukturieren, reorganisieren, transformieren, fusionieren, digitalisieren und machen zig Change-Projekte. Der Veränderungsdruck ist hoch. Und ständig drängt man uns: „Das geht nicht schnell genug, nicht tief genug, nicht radikal genug!“ Warum nicht?

Frage ich Vorgesetzte und Führungskräfte, sagen mir viele: „Klar, meine Leute fühlen sich vom Change verunsichert. Sie wissen nicht genau, was von ihnen erwartet wird. Aber mir ging es doch am Anfang ebenso! Und ich bin schließlich auch mit der Unsicherheit zurechtgekommen. Warum die nicht? Was stimmt mit denen nicht?“ Gute Frage. Worauf tippst du?

Die Antwort ist so offensichtlich, dass selten jemand draufkommt: Wenn ein Vorgesetzter mit Unsicherheit so gut umzugehen gelernt hat und seine Mitarbeiter nicht – warum bringt er es ihnen dann nicht bei? Zum Beispiel mit etwas, das sich „Führung“ nennt? Das ist kein Sarkasmus. Das ist eine Frage.

Stelle ich sie im Coaching oder im Workshop, schauen mich einige baff an und meinen: „Äh, tja, stimmt eigentlich. Warum tun wir’s nicht?“ Und dann stellt sich heraus: Gerade weil viele Führungskräfte so schnell und tiefgreifend gelernt haben, mit Unsicherheit und Ungewissheit in Veränderungsprozessen umzugehen, ist das Thema bei ihnen durch, abgehakt, erledigt, runter vom Radar. So sehr runter vom Radar, dass sie ihre eigenen Mitarbeiter im Change-Prozess nicht für berechtigt verunsichert halten, sondern für passiv, bockig, renitent bis subversiv. Im Workshop oder Coaching fällt dann oft der Groschen: „Oh, die sind nicht gegen den Wandel – die sind bloß verunsichert!“ Und dann? Was passiert dann?

Nichts. Weiterhin nichts. Gerade im Change, in dem es am nötigsten wäre, wird angewiesen, angeordnet, zielvereinbart, delegiert, organisiert und kontrolliert. Geführt wird nicht. Und an der Basis, die sich verraten und verkauft fühlt, kursieren die üblichen Sprüche wie: „Wer glaubt, dass Führungskräfte führen, glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.“ Warum wird ausgerechnet dann, wenn Unternehmen, Führungskräfte, Mitarbeiter und Kunden es am nötigsten hätten, nicht geführt?

Das ist eine Suggestivfrage. Manchmal entdeckt das eine(r). In Seminaren hebt manchmal eine(r) die Hand und fragt: „Wer hat denn behauptet, dass vor dem Change bei uns geführt wurde?“ Man führt im Change seine Mitarbeiter (und Kunden) nicht aus der Unsicherheit heraus, weil man vor dem Change auch schon nicht geführt hat bei Wut, Frust, Zorn, Stress und Aggression. Weil bei uns hier im Westen seit 200 Jahren gilt: Emotionen sind bei Arbeitsantritt an der Zeiterfassung abzugeben. Dafür kann die Führungskraft nichts: Das ist unsere Kultur. Anderswo wird ja auch nicht über das wirklich Wesentliche, über das Essenzielle, über das Entscheidende geredet. Nicht in Familien und in Schulen schon zweimal nicht – ich hoffe auf vehementen Widerspruch. Bislang noch vergebens. Als ob der kulturelle Affektkiller nicht schon übel genug wäre, kommt noch ein persönlicher hinzu.

Jede Führungskraft, die angesichts des drohenden und drängenden Wandels ihre eigene Unsicherheit überwunden hat, ist dafür vor Jahren, Monaten oder Wochen selber durch dieses lähmende, verunsichernde, frustrierende und stressige Jammertal gegangen – und ist jetzt zu Recht heilfroh, da endlich raus zu sein, dass sie echt kein‘ Bock hat, ins Tal der Tränen zurückzukehren. Wer dann gezwungen wird, seine Mitarbeiter in ihrer Not zu sehen, fürchtet natürlich, dass damit der alte Frust und Schmerz wieder hochkommt, aufbricht und alles wieder aufflammt, was man längst bewältigt zu haben gehofft hat.

Außerdem: Jeder Vorgesetzte muss doch in erster Linie den Laden am Laufen halten, das Operative abarbeiten – da kann man(ager) sich nicht auch noch um die Wehwehchen der Mitarbeiter kümmern. Vor allem auch, weil die das schamlos ausnutzen und sich dann „stundenlang bei mir auskotzen“, wie Vorgesetzte klagen. Bis neulich eine Spartenleiterin aus der Pharma-Industrie im Seminar die Hand hob und wissen wollte: „Die kotzen sich bei euch stundenlang aus? Verstehe ich nicht. Worüber redet ihr denn so lange?“

Dann legten die anderen Führungskräfte selber los, fanden kein Ende und redeten praktisch ohne Atem zu holen über die IT, die nicht funktioniert, die irrsinnigen Termine, die Abstimmungsprobleme, die latenten und offenen Konflikte, die viel zu knappen Budgets … Bis uns allen das Licht aufging: Die kotzen sich nur deshalb „endlos“ aus, weil sie über all das reden, was sie ärgert (und das ist wirklich endlos) – aber nie über den Ärger. Das ist das beste Rezept, nie zum Ende zu kommen: Man redet um den heißen Brei herum.

Natürlich völlig unabsichtlich und praktisch hinterm eigenen Rücken. Die Spartenleiterin, die ihre Hand hob, macht das intuitiv, im Coaching machen wir das methodisch: Man spricht zwei, drei Minuten über all das, was einen stresst, ärgert, frustriert, verunsichert – und dann spricht man direkt über den Stress, Ärger, Frust und die Verunsicherung. Indem man zum Beispiel fragt: Und wie fühlt ihr euch bei all dem?

Dann kommen die ganzen ursächlichen Emotionen hoch. Das Wesentliche. Und dann quasselt man auch nicht „stundenlang“. Das erledigt sich in 20 bis 30 Minuten (wenn man so moderiert, dass man bei den Emotionen bleibt und nicht ständig ins Jammern zurückfällt). Das ist nix Neues. Das kannten schon die alten Griechen. Sie nannten es Katharsis – Befreiung, seelische Reinigung. Der Leidensdruck nimmt drastisch ab. Das ist irgendwie logisch.

Redet man über all das, was einen verunsichert, nimmt die Verunsicherung zu. Redet man dagegen über die Verunsicherung, nimmt sie ab. Viele Führungskräfte wie die Spartenleiterin machen das, weil sie das können, weil sie das vom Elternhaus her kennen, es sich angelesen haben oder eine gute Personalentwicklung haben, die auf die Vermittlung grundlegender Leadership Skills wie EQ achtet. Viele andere Führungskräfte haben dieses Glück nicht und wollen auch nicht „in Gefühlen wühlen“. Das muss man(ager) nicht. Man muss nicht wühlen. Man kann wühlen lassen.

Indem man zum Beispiel für zwei, drei Stunden einen Coach oder Prozessbegleiter reinholt oder gleich einen Halbtagsworkshop macht, in dem dann der ganze emotionale Ballast aufgearbeitet und entsorgt wird. Das ist gut investierte Zeit. Denn danach ist das ganze Passive, Frustrierte, die angezogene Handbremse und die vielen lästigen Nebenkriegsschauplätze des nötigen Wandels weg, erledigt, ausgeräumt und man kann sich wieder auf seine eigentlichen Ziele konzentrieren.